Wo bleibt der Spaß, ihr UX-Freaks?
Amazon praktiziert das ultimative User Experience Design. Sie testen jede noch so kleine Design-Idee in kürzester Zeit an einer riesigen Zahl von Nutzern. Was funktioniert, bleibt, was schlecht performt, verschwindet. Amazon könnte das fast automatisch machen. Ein perfektes System der Selbstverbesserung. Und doch frage ich mich, ob dies der Weg ist, um eine außergewöhnliche UX zu entwickeln.
Amazon ist nur ein Beispiel. Ein sehr erfolgreiches Beispiel. Und eine ganze Designdisziplin folgt diesem Vorbild: data driven design. Der typische UX-Designer verlässt sich bei seinen Entscheidungen auf Daten und Tests, auf Best Practices und etablierte Standards. Das ist ein legitimes Verfahren, und es ist ein gutes Mittel, um Entscheidungsträger zu überzeugen.
Aber wenn man sich zu sehr auf Daten verlässt, kann man davon abhängig werden und den Spaß am Design verlieren. Das bringt uns zum Kern dieses Artikels. Reines UX-Design birgt eine Gefahr in sich: Trägheit.
Was ist die Aufgabe von Design?
Gehen wir einen Schritt zurück und erinnern uns an die Rolle von Designer:innen. Wie sollen sie sich gegenüber ihren Kundinnen und Kunden verhalten, wie sollen sie manchmal sogar eine gegensätzliche Meinung vertreten?
- Designer:innen garantieren ein langfristiges Design-Konzept ein, auch wenn es den Kund:innen reicht, so auszusehen wie ihre Konkurrenz.
- Designer:innen zeigen Ideen auf, die auch in zwei oder drei Jahren noch frisch und besonders aussehen werden.
- Designer:innen machen eine Marke einprägsam und wiedererkennbar.
Natürlich steht es Kund:innen frei, den Ratschlägen des Designers nicht zu folgen, aber es ist die Aufgabe des Designs, die Grenzen dessen auszuloten, was für den Kunden akzeptabel ist.
Das Design muss überraschend sein und ein wenig zu weit gehen. Man kann immer einen Schritt zurückgehen. Aber es ist fast unmöglich, aus einer mittelmäßigen Idee einen großartigen Entwurf zu machen.
Und da sind wir wieder bei dem Problem des UX-Designs: Wie kann man über den Tellerrand hinausschauen, wenn man in den Zwängen von statistischen Auswertungen feststeckt?
Eine umfassendere Definition von UX
Was sollten wir also von User Experience Design erwarten? Ich möchte eine umfassendere Definition von UX aufstellen. Eine Definition, die sich nicht nur auf die Bedienbarkeit (ease of use), sondern auch auf den Spaß an der Bedienung (joy of use) konzentriert. Ist es nicht genauso wichtig, dass die Benutzer ein gutes Gefühl beim Drücken der Taste haben, wie dass sie deren Bedeutung verstehen? Wäre es nicht schöner, wenn die Benutzer den Eindruck bekämen, dass eine Website sie versteht, anstatt dass sie die Website verstehen müssen?
Wie die Hand von Freddie (dem früheren Maskottchen von MailChimp), die nervös zittert, wenn er im Begriff ist, den Newsletter an den kompletten Verteiler zu versenden. Er spiegelt die Emotionen nach, die man als Nutzer:in durchlebt.
Auch wenn es etwas vom Hauptziel – dem Versand des Newsletters – ablenkt, ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass sich jemand Verständnis hat, selbst wenn es nur ein gezeichneter Affe ist. Dieses Designelement hat keine Usability-Funktion sondern dient nur der Kundenbindung.
Vielleicht sollten wir noch eine Weile bei MailChimp bleiben. Als MailChimp ihr illustratives Design an den Start gebracht haben, war das ein ziemlicher Erfolg. Weil es, neben dem professionellen Funktionsumfang, auch Spaß gemacht hat, das Tool zu nutzen. Und entwickelt man solche Ideen auf Basis einer Datenauswertung? Hätte eine datengesteuerte Designentscheidung zu einer starken Corporate Identity wie dieser geführt? Das glaube ich nicht.
Für die Kunden von MailChimp sind die Hauptgründe für die Nutzung des Tools die einfache Bedienbarkeit und natürlich der Preise. Diese beiden Funktionen werden sicherlich von Daten und Analysen angetrieben und machen MailChimp zu einem guten Produkt. Aber das ist eben nur die Pflicht in einem wettbewerbsintensiven Markt. Was wirklich einen Unterschied macht, ist das Gefühl, MailChimp zu nutzen.
Es dauert nur Sekunden, bis sich die Nutzer:innen ein Bild davon machen können, was sie von einer Marke und ihren Produkten erwarten können. Der Charakter einer Marke wirkt sich stark auf das Vertrauen aus, das die Nutzer in ein Produkt haben. Wenn MailChimp eine schöne Website hat – nicht nur eine Website, die ihre Aufgabe erfüllt – und auch noch einige Ressourcen hat, um freundliche und witzige Texte zu schreiben, steigert das definitiv die Erwartungen der Nutzer an das Produkt.
Es braucht eine Idee, um außergewöhnlich zu sein
Okay, ich will hier nicht als MailChip-Fanboy auftreten, aber was man von ihrem Branding lernen kann, ist, dass es eine Idee jenseits von Daten braucht, um sich zu einer außergewöhnlichen Marke zu machen. Und der Wert dieses Aufwands – auch der Return on Investment – wird meist unterschätzt.
»Daten« stützen das das UX-Design, aber »Freude« stützt die Marke.
Angefangen beim Markennamen und den Produkten, über die Unternehmenssprache und die Bildsprache bis hin zur Art und Weise, wie man soziale Medien nutzt und auf Beschwerden reagiert, formt eine Marke ihren Charakter auf einer Ebene, die niemand messen kann. Und ich würde immer dazu raten, diese nicht quantifizierbaren Werte an die erste Stelle zu setzen und die messbare UX-Optimierung an die zweite. Ganz einfach, weil es schwieriger ist, sich zu ihnen zu bekennen.